Bildung und Wissenschaft Engoniens

Vorbemerkung:

Es ist schwierig, eine Welt, in der Zauberei und Einwirken der Götter zwar nicht alltäglich, aber auch nicht selten sind, einer irdischen Epoche zuzuordnen, in der diese Kräfte nie wirkten und in der der Zerfall von Reichen oft Jahrhunderte lange Stagnation nach sich zog. Grob gesprochen und nur technisch betrachtet, befindet sich Engonien im Zeitalter des Spät Mittelalter , wobei Tangara der Entwicklung vorauseilt, während einige Provinzen z.B. Andarra und Silvanaja der Entwicklung hinterherhinken — aber wie gesagt, ein solcher Vergleich ist eigentlich nicht zulässig …

Bei dem folgenden Text handelt es sich um die Übertragung von Teilen des noch nicht veröffentlichten Buches ‚In Eljas Namen‘. Wir haben den Text nur geringfügig bearbeitet und bitten um Verständnis, wenn hier bisweilen einseitig zu philosophischen Ansichten der Eljakirche Stellung bezogen wird …

PHILOSOPHIE UND RELIGION

Noch immer ist der Glaube an die Sechsgötter die verbreitetste Religion Engoniens. Der Kultus der Sechse ist jedoch kein starrer Block von Denkgebäuden, sondern bietet einer Vielzahl von Denkrichtungen Platz, die entweder die Stellung einzelner Gottheiten oder Götterkinder besonders hervorheben oder eine abweichende Bewertung des Wirkens der Götter vornehmen. Exponenten dieser Sekten oder (meist) ethnischen Ausprägungen sind der Silvanajische und der Andarianische Glaube. In der letzten Dekade haben sich auch Götter aus dem Ausland in Engonien angesiedelt und Fuß in der Bevölkerung gefasst wie z.B. der Glaube an Askar (seine Geschwister sind weniger bis gar nicht verbreitet) und Tormentor.

MAGIE

Die vermehrten offenen Angriffe von Szivar und der Bürgerkrieg hat die magischen Künste und Wissenschaften in den letzten Jahren weiter vorangebracht als die vorausgegangenen 270 Jahre, nach dem Fall der alten Ayd´Owl. Die größten Fortschritte wurden hierbei auf den Gebieten der Teleportmagie, der Vernichtung dämonischer Wesenheiten und der Vergrößerungen der Schutzmagie gemacht. Auch viele Sprüche der Hexen und Druiden konnten entschlüsselt und niedergeschrieben werden, ja, selbst die bislang kaum bekannten Rituale der Schamanen konnten hinreichend katalogisiert werden. Dazu kommen die Wiederentdeckung alter Artefakte, namentlich die so genannten Wegsteine, und vor allem die weitere Verbreitung magischen Wissens in den verschiedenen Zweigen der Zauberkunst. Nach langen Jahren der Zurückgezogenheit versucht sich die Zauberkunst mittlerweile auch wesentlich stärker als ‚angewandte Wissenschaft ‚ .

MATHEMATIK UND GEOMETRIE

Seit der allgemeinen Anerkennung der Null vor mehr als 100 Jahren, der Wiederentdeckung des ‚ Alt Caldrischen Wurzelziehens ‚ und der Veröffentlichung der Fanadischen Winkelmaßtafeln hat sich auf dem Gebiet der Mathematik als grundlegende Wissenschaft wenig Neues getan, wenn auch diese Künste einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das tägliche Leben nehmen – sei es in Form der Ulder Zinseszinstafeln oder des kaufmännischen Bruchrechnens, sei es in Schiffbau und Architektur, wo sich aus geometrischen Grundsätzen auch solche der Statik herleiten lassen.

ASTRONOMIE UND ASTROLOGiE

Die Astronomie als Wissenschaft zur Erstellung von Sternkatalogen , die zur Horoskoperstellung und Navigation benötigt werden, ist in Engonien ein junges Gebiet. In den östlichen Ausläufern des Himmelsgebirges soll in naher Zukunft ein Teleskop zu Betrachtung der Sterne erbaut werden. Die Astrologie erfreute sich (wie andere Wahrsagekünste auch) in den unruhigen Zeiten großer Beliebtheit, auch wenn kein allgemeingültiges und vor allem hieb- und stichfestes Deutungssystem vorliegt und der Wahrheitsgehalt von Prophezeiungen, die über Charakterdeutungen und kurzfristige Voraussagen hinausgehen, allein in der Hand der Götter liegt.

GEOGRAPHIE UND KARTOGRAPHIE

Es kann mit Fug und Recht gesagt werden, dass auf der Karte Engoniens nur noch wenige weiße Flecken prangen, namentlich in den höchsten Gebirgszügen oder in den tiefsten Wäldern, jedoch heißt dies bedauerlicherweise nicht, dass die Wildnis, die Städte und Dörfer umgibt, dadurch, dass man sie als ‚Elfen Wald ‚ oder ‚Himmelsgebirge‘ auf Karten einzeichnet, genauer erforscht wäre. Noch immer sind mehr als neun Zehntel Engoniens im Kleinen unerforscht, und dies wird sich wohl auch in den nächsten Jahren nicht ändern, auch wenn wagemutige Entdecker die Grenzen unseres Wissens immer weiter von Engonien weg bewegen und vergessene Länder hinter dem Horizont wieder oder neu entdecken.

BOTANIK UND ZOOLOGIE

Die Tierkunde Engoniens kann in phänomenologischer Hinsicht als abgeschlossen betrachtet werden, denn nur selten erreicht uns noch die Kunde von einer nie zuvor gesehenen Kreatur, und auch die Beschreibungen des tierischen Verhaltens scheinen in ausreichender Form vorzuliegen, ja, selbst die verschiedenen Methoden der Tierverwertung scheinen ausgeschöpft. Im Bereich der Pflanzenkunde ist dieser Wissensstand noch nicht ganz erreicht, wenn auch in den letzten Jahren viele Bäume, Sträucher und Kräuter des Silvanajischen Waldes beschrieben werden konnten. Eine Einordnung der Tiere und Pflanzen in widerspruchsfreie Klassen und Kategorien harrt noch ihrer Entdeckung.

MECHANIK UND INGENIURSKUNST

Seit langer Zeit sind in Engonien die Grundprinzipien mechanischer Arbeit bekannt. Alte Traktakte behandeln bereits Pumpen und Flaschenzüge. Da jedoch die meisten Gelder und intelligenten Geister durch die Magierakademien und Tempelschulen aufgefangen werden, lässt hier die praktische Erprobung sich viel Zeit. Diese Wissenschaften sind daher noch größtenteils in der beschreibenden Phase, theoretisch geleitete Schritte werden kaum gemacht, da hier auch die nötige Mathematik fehlt. Anhand von empirischen Tabellen werden Katapulte und andere Kriegsmaschinen verwendet und die Erfahrung des Gerätemeisters ist nützlicher als eine oft grundfalsche Theorie. Da die ehemaligen Provinzen nach dem zweiten Bürgerkrieg erst recht wenig Geld für theoretische Grundlagenforschung haben, wird sich hier so schnell wenig tun. Zu hoffen bleibt, dass durch die Verbreitung von mathematischen Theorien in den Magierakademien eine Weiterentwicklung dieser grundlegenden Kunst folgt.

ALCHIMIE UND HÜTTENKUNDE

Das spektakulärste alchimistische Produkt ist sicherlich das in den Kriegen der letzten Jahre häufig verwendete Bregarfeuer genannte Brandöl, das auch auf dem Wasser brennt. Dass Alchimisten daneben auch noch Gifte verschiedenster Art herstellen und bisweilen ihre Werkstätten in Schutt und Asche legen, hat dem Ruf dieser Zunft sehr geschadet, was jedoch sehr zu bedauern ist: Immerhin sind es auch Alchimisten, die uns mit Feuerwerken erfreuen und ständig die Qualität des Glases verbessern. Letzteres erreicht sogar mittlerweile optische Qualitäten, die – wenn auch zu horrenden Preisen – denen geschliffener Kristalle in nichts nachstehen. Zudem haben ihre Methoden des Siedens und Abscheidens, der Destillation und Lösung auch die Heilkunst vorangebracht. Eher praktische Anwendung und weite Anerkennung finden die verschiedenen Metalle und Legierungen, namentlich natürlich alle Verfahren, aus den stark unterschiedlichen Eisensorten gute Stähle herzustellen – allein, die Künste der Gong- und Röhrengießer, der Stahlschmelzer und natürlich der Schmiede gelten fast stets als gut gehütetes Gildengeheimnis.

SCHIFFBAU UND SEEFAHRT

Der immer noch in den Kinderschuhen steckende Schiffbau bekommt durch findige Tüftler in Stejark langsam auftrieb, so das damit zu rechnen ist, das in den nächsten 3 Dekaden einen Seehandel nichts mehr im Wege steht.

KRIEGS- UND MILITÄRWESEN

Die Kriege der letzten Dekaden haben die sich anbahnenden Entwicklungen im Heereswesen entweder (durch die Erfindung und Verwendung neuer Waffen) beschleunigt oder zunichte gemacht (durch die mangelnden Kopfstärken für Formationskämpfe). Dass jedoch die Heere aller Länder von allen hier beschriebenen wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen zuallererst profitiert haben, nimmt in unseren unruhigen Zeiten nicht Wunder. Die wichtigsten Waffen auf den Schlachtfeldern der letzten Jahre waren sicherlich das neu Aufkeimen von Guerrilla-Taktiken und asymmetrischer Kriegsführung , und alle Formen der Feld- und Belagerungsgeschütze, die mit Bregafeuer Breschen in die anrückenden Schlachtreihen reißt, bis hin zum Hammerwerfer, einem gigantischen Belagerungsgeschütz, das durchaus in der Lage ist, einen ganzen Ochsen fast eine Meile weit zu schleudern. Insgesamt gingen der Trend der Entwicklung und die militärische Doktrin immer mehr in Richtung auf das in großer Zahl eingesetzte leicht gepanzerte Fußvolk und auf hochbewegliche, vielseitig einsetzbare Reiterei, unterstützt von Feldgeschützen (und bisweilen sogar von Zauberei). Entgegen dieser Entwicklungen haben die hohen Verluste gerade vor den Toren Fanadas wieder die Rolle des einzelnen Kämpfers und seiner Fähigkeiten in den Vordergrund gerückt, was sich zum einen in einer guten Ausbildung an den Krieger- und Kadettenschulen, zum anderen aber auch in der weiteren Verbreitung der Taktik der `Kleinen Gruppen ’niederschlägt. Letztere, von den Anderianischen Widerständlern gegen die Valkensteiner Besatzer angewandte Kampfform gilt zwar nicht als Ehrenhaft, aber als überaus effektiv, so dass einige militärische Einheiten dazu übergegangen sind, die Hand von fünf oder die Rotte von zehn im Fern wie im Nahkampf ausgebildeten Kämpfern und nicht mehr das Banner als die Basis der Organisation einzusetzen.

DRUCKKUNST UND SCHRIFTLEHRE

Auch wenn immer noch die aller meisten Bücher mit Hand geschrieben und kopiert werden, So versuchen sich einige Magier im Konzil der geistigen Kraft Texte auf magische Weise zu kopieren. Bezaubert wird nicht Pergament (das immer noch den üblichen Schreibgrund für Urkunden oder auch persönliche Briefe darstellt), sondern auf Lumpen-, Bütten oder Eichenrindenpapier, das von vielen Papiermühlen hergestellt wird. Nichtsdestotrotz sind Bücher, deren Bindung und Illumination einen großen handwerklichen Aufwand erfordert, weiterhin nicht billig. Da jedoch große Teile der Bevölkerung des Lesens und Schreibens noch immer nicht mächtig sind, ist die Profession des Schreibers weiterhin hoch angesehen, wobei sich durch das Wirken der ehemaligen Schreiberschule zu Engonia und des Eljatempels zu Middenfelz auch gewisse Normen der Rechtschreibung, des Stils und der Grammatik durchsetzen konnten .

MUSIK

Die Musik dient seit einiger Zeit nicht mehr nur der Untermalung von Geschichten, dem Tanz oder dem Marsch, sondern ist eine Kunst aus sich selbst geworden, was sich vor allem darin zeigt, dass in Caldrien die Komponisten und Kapellmeister ein hohes Ansehen haben, was sicherlich auch auf den Ruf des verstorbenen Großmeisters Adolphe Ledoux zurückzuführen ist, der durch einige spektakuläre Opernaufführungen (mit großen Chören und Orchestern, Feuerwerk, Tänzern und sogar Zauberei!) von sich reden machte. Auch dem Sologesang Caldrischer Jünglinge wird gerne gelauscht – oft auch in Kombination mit leichten Rauschmitteln –, und berühmte Interpreten können verdientermaßen mit Ruhm und gutem Gold rechnen. Die klassische Verwendung der Musik in den großen Schulen der Barden und bei den vielen regional unterschiedlichen Tänzen hat daneben jedoch nichts an Bedeutung verloren, und Straßen und Schänkenmusiker erfreuen sich weiterhin auch beim einfachen Volke größter Beliebtheit.

BILDENDE KUNST

In der Malerei und dem – seit Jahrhunderten fast unveränderten – Skulpturenhandwerk dominiert weiterhin die rein gegenständliche (wenn auch bisweilen sehr allegorische) Darstellung, sei es in Götter- und Heiligenbildern oder Schlachtgemälden sowie Landschaftszeichnungen und Stadtansichten (wobei letztere schon fast den Bereich der Kartographie und der Atlantenherstellung berühren). Mit der verbreiteten Verwendung der Perspektive ist es mittlerweile gelungen, Bilder zu erschaffen, die wie Blicke auf die Realität wirken. Ein ähnlicher Trend ist im Bereich der Stillebenmalerei zu bemerken, wo der ` Memoria Apfel ‚ mit seinem augentäuschenden Naturalismus ein ungekröntes Meisterwerk ist. Wenn auch die meisten Maler sich auf konventionelle Materialien und Techniken (Öl auf Leinwand oder Holz, Tusche auf Pergament oder Reispapier, Sonnenglanz auf Bütten) beschränken, so gibt es doch einige, denen immer wieder nachgesagt wird, sie würden auch Zauberei einsetzen, um die Wirkung ihrer Bilder zu verbessern; die Halbelfische Künstlerin Saloria Radonje sei hier an erster Stelle genannt.

HEILKUNDE

Die bemerkenswerteste Neuerung der letzten Jahre betrifft den Einzug der Magie in die Heilkunde, und selbst wenn dies auch nur eine Methode ist, die sich Grafen, Fürsten und reiche Handelsherrn leisten können, so ist der `magische Hofmedicus‘ doch ein angesehener Posten (und zudem mit weniger Risiko verbunden als z.B. der des magischen Leibwächters). Daneben betreiben die Feldschere und Medici natürlich auch weiter auf herkömmliche Art und Weise ihr Handwerk, und wenig hat sich hier in den letzten Jahren getan. Zwar konnten einige Kenntnisse der Waldmenschen in die Heilkunst übernommen werden, auch macht die Anatomie dank recht lockerer Bestimmungen in Uld große Fortschritte – aber so recht weitergekommen scheint die Medizin in den letzten Jahren nicht zu sein; immer noch dominieren schlecht ausgebildete Zahnreißer, Feldschere mit der groben Säge und schlimmstenfalls unkundige Quacksalber das Feld … Weder magisch noch weltlich einfach zu bekämpfen sind die Siechen und Seuchen. Zwar weiß man, dass Sauberkeit, frische Luft und reines Wasser hier einen guten Teil zur Genesung und zur Vermeidung von Ansteckung beitragen können , aber wirklich bekämpft werden können Seuchenkrankheiten immer noch nur von denen, auf denen der Segen der Götter ruht. Die Seelenheilkunde ist ein recht neues Gebiet der Heilkunst, aber nachdem viele Amateure den Zustand ihrer Patienten eher verschlechtert als verbessert haben, dominieren auch hier die qualifizierten Priester das Feld.

Fazit

Bleibt schlussendlich noch die Frage, wem diese Entdeckungen und Erfindungen zugute kommen. Bedauerlicherweise muss hier gesagt werden, dass vielleicht nur ein Zehntel aller Engonierer die Möglichkeit haben, Nutzen aus diesen Neuheiten zu ziehen, denn noch immer wird – sei es vom Caldrischen Adel oder von den Tangerianischen Häusern – die Volksbildung sträflich ignoriert, ja, sogar mit äußerster Skepsis und als gefährlicher Unfug gesehen. Außerdem ist Wissen nicht nur Macht, die man ungern teilt, nein, es ist auch ein teures Vergnügen … Und so sind es wohl nur die Novizen einer Religion oder einer Magierschule, einige wenige Abgänger von Kriegerakademien, dazu ein paar aufgeschlossene Händler und wenige Gelehrte, die auch nur diese hier präsentierten wenigen Grundlagen zu ihrem Wissensschatz zählen dürfen – und trotz der Bemühungen der Eljakirche wird sich wohl die nächsten Jahrzehnte daran nichts ändern …